Die Bahn braucht jetzt also von Bewerbern kein Anschreiben mehr. Meine erste Reaktion: zwiespältig. Tatsächlich habe ich mich selbst schon ein paarmal mit der Erstellung eines aussagekräftigen Textes gequält. Es ist der Teil einer Bewerbung, der am meisten Zeit und am meisten Nerven kostet. Dabei rutscht man schnell in die Floskel-Falle und beweihräuchert Pseudo-Erfolge. So ein Anschreiben kann ziemlich peinlich und ziemlich sinnlos sein. Andererseits: Ein Anschreiben zwingt den Bewerber, sich mit sich selbst und dem Unternehmen auseinander zu setzen. Und er muss sich anstrengen. Sich an Formalia halten, die Rechtschreibung beachten. Als ich in meinen Überlegungen soweit gekommen war, gefiel mir die Strategie der Bahn überhaupt nicht mehr. Denn sie ist letztlich ein Hinweis auf die Defizite unseres Bildungs- und Erziehungssystems. Schließlich argumentiert die Bahn damit, dass so ein Anschreiben für Schüler zu schwierig sei. Mein Vater hat mit 15 Jahren die Schule verlassen und ein Anschreiben formuliert. Ganz ohne elterliche Hilfe. Er konnte das. Ich habe meine erste Bewerbung mit 18 Jahren geschrieben. Meine Mutter hat geholfen und trotzdem habe ich viel gelernt. Ich vermute, dass heutige Schüler es tatsächlich nicht mehr können. Sie sind schlecht in Orthografie und Zeichensetzung. Sie tun sich schwer mit Texten und selbständigem Arbeiten. Und sie wollen sich nicht mehr quälen. In Zeiten des Fachkräftemangels mag das in einigen Bereichen funktionieren. Die Bahn ist froh, wenn sich überhaupt Bewerber melden. Ob jedoch diejenigen die richtigen sind, die die Hürde des Anschreibens nicht nehmen konnten bzw. wollten, sei dahingestellt.